3. April 2007
giesskannen: ...

4baeume

18. März 2007
fremde Welt: Michaela sagt sie kann Sonntage nicht leiden

Gemeinsam stehen sie am Waschbecken und schrubben die Fingernägel. Der Chef stellt die Eieruhr, dann verreiben sie den blauen Alkohol auf Händen und Unterarmen.
"Junge", so spricht der Chef jeden seiner OP-Helfer an.
Der Chef hat Unterarme wie ein Pferdeschlachter, einen Bart wie ein polnischer Gewerkschaftsführer und braune tote Augen. Er hat in seiner Karriere drei chirurgische Verfahren entwickelt, die seinen Namen tragen. Eins davon ist genial einfach, er war der erste, der es wagte. Vorschulkinder hätten auf die Idee kommen können.
Nun sieht er zu, wie seine Klinik den Bach runtergeht. Die letzten Jahre bis zur Rente verbringt er damit, im Akkord geriatrischen Patienten neue Hüftgelenke einzusetzten.
"Junge, ich beneide euch nicht", sagt er. Dann schrillt die Uhr, und sie gehen in den Saal.
Der Junge benötigt Hilfe mit dem Kittel.
"Könn sie sich immer noch nicht allein anziehen!"
Die Drachenschwester hat Dienst. Die mit dem kalten, blauen Blick aus kajalunterstrichenen Augen. Die jede Gelegenheit nutzt, den Nachwuchs anzufauchen. Gerne auf der persönlichen Ebene.
"Sie stehn hier nur so ungeschickt rum! Sie sind bestimmt Einzelkind!"
Der Junge tut so, als würde es ihn nicht treffen. Um ihr die Genugtuung vorzuenthalten. Das provoziert sie.
Und sie erzählt gerne von sich. Das Anästhesie-Team auf der anderen Seite der Blut-Hirn-Schranke muss die Kaufhausklassik ertragen, die sich die teilnarkotisierten Patienten immer als Beschallung wünschen - der Chef und der Junge die geballte Lebensweisheit der Drachenschwester, die nur von dem Schlürfen des Saugers und knappen Anweisungen unterbrochen wird.
"Junge, hier. Junge, Strom."
Eine Männergeschichte wird gerade abgeschlossen mit der Moral: "Das Gute mit 35 ist ja, dass man weiss, was man will und was nicht."
Der Chef hebt kurz den Blick vom OP-Feld: "Vor allem weiss man mit 35, was man kriegt und was nicht. Langenbeck-Haken. Junge, hier."
Dann ist erstmal Ruhe.

14. März 2007
denkblase: ...

Die Stadt ist klein, sie liegt an keinem ernstzunehmenden Fluß, sie hat viele Maschinenbaustudenten und deshalb Kneipen, die Hobbit oder Hotzenplotz heissen. Am Wochenende fällt die Landbevölkerung zum Shoppen ein, bauchfrei und mit verspiegelten Sonnenbrillen.
Die dort leben, sagen mir, es sei ein Dorf.
Immer wenn ich dort bin, fühle ich mich fast wie zu Hause.

Berlin ist anspruchslos. Berlin verlangt nicht viel von mir. Ich brauche nicht komplett zu sein, Berlin ist es ja auch nicht. Deshalb bin ich gerne hier. Meistens.

Und es gibt Samstage, an denen ich im Café sitze und lese. Eine zeitlang gelingt es mir, die anderen Gäste auszublenden. Doch dann schlägt jemand mit der flachen Hand auf den Tisch, dass der langstielige Löffel im Milchkaffeeglas klappert, und ruft: „Sex now!“

Sein weibliches Gegenüber sieht nach manifester Körperschemastörung aus, hat sich in eine trotzdem noch zu enge Karottenjeans und die Karottenjeans in die Stiefel gequetscht und sieht ihn gebannt an.

„Sex now! Irgendwann muss Schluss sein mit dieser feinziselierten Handlung, dann muss es auch mal zum Punkt...“ Und dann wird seine Stimme wieder leiser, dass sie fast im Grundrauschen untergeht. Alles klar, hier wird das Treatment der neuen Mitte-Soap besprochen, mindestens.

Seine Haare sind sorgfältig zerstrubbelt, er trägt Germanistenbrille und einen Parka mit umpuschelter Kapuze. Vor ihm auf dem Tisch liegt die aktuelle Vogue und darauf ein Päckchen Ernte 23.

In den Augenblicken überkommt mich die Sehnsucht nach der utopischen Kleinstadt. In der nicht zwei Drittel der Bewohner die Energie von umgerechnet drei Atomkraftwerken zur sorgfältigen Selbstinszenierung verschwenden, bis auch der letzte Rest uncooler, unkontrollierter Authentitizät Echtheit ausgemerzt ist. Und in der Ernte 23 nur unironisch geraucht wird.

12. März 2007
woanders: ...

"Hi, D., ich steh auf der Gästeliste..."
"Wie is dein Name nochma?"
"D..."
"Ah, ja, hier... D. plus eins!" Und schaut suchend über meine Schulter.
"Nein, ohne eins..."
"Oh, tut mir leid." Und streicht mir kurz über die Hand, bevor sie den Stempel draufdrückt.

22. Februar 2007
berlin: ...

Neuschwanstein

"I don't want to have to do this living. I just walk around. I want to be swept off my feet, you know? I want my children to have magical powers. I am prepared for amazing things to happen. I can handle it."

20. Februar 2007
take-home-message: ...

"Journalismus ist weder Beruf noch Handwerk. Er ist nichts als ein billiges Asyl für Arschlöcher und Mißratene - eine blinde Gasse zur Kehrseite des Lebens, ein dreckiges, nach Pisse stinkendes kleines Loch, auf Anordnung eines Bauamt-Inspektors zugenagelt, aber gerade noch groß genug für einen Wermutbruder, sich in einer Nische am Gehsteig zu verkriechen und sich einen runterzuholen wie ein Schimpanse im Zoo-Käfig."
Fear and Loathing

17. Februar 2007
berlin: Die dunkle Seite der Diskokugel

Man sieht sie nicht, aber die Dunkle Materie ist es, die das Weltall zusammenhält.
"Na, was überlegst du?" schreit meine Begleiterin.
Als Antwort zucke ich die Schultern, schüttle den Kopf und hebe die Bierflasche.

Die Diskokugel schickt ihre Reflexe durch den Nebel aus Zigarettenrauch, Männerschweiß und Niveadeo. Die Veranstaltung ist einschlägig beleumundet. Die einzigen mit Stil sind die DJs und ihre Freundinnen, der Rest besteht aus purer Verzweiflung.
Deshalb sind wir hier.

"Ich habe mal eine Doku über Erdmännchen gesehen, die stampfen rhythmisch auf den Boden und locken damit über Kilometer willige Partner an", schreit meine Begleiterin.

Die junge Frau auf der Tanzfläche hat einen stolzen Blick, trägt einen silberweißen Kunstfaserpullunder und ein Rotweinglas - und steppt, dass der Boden bebt.

"Ganz schlimm sind diese Giraffentypen, die sich da hinter der Säule verstecken, aber einen langen Hals machen und mir auf die Titten stieren", schreit meine Begleiterin. Ich nicke abwesend und betrachte weiter die anwesenden Frauen.

Mir fällt ein, was ich im Internet über das Lek-Paradoxon gelesen habe.

Der Kollege, der uns begleitet, hat seit einer Stunde kein Wort mehr gesagt.

Das DJ-Gespann kommentiert das Geschehen zunächst noch mit ironischen Titeln, gibt aber dann dem Publikum, was es will.

Auf der Tanzfläche umarmen sich drei Typen, schwingen im Takt die Beine in die Luft und versuchen, andere einzugliedern. Ja, ich hab sowas auch mal gemacht. Mit Zigarettensteuermarkenpapier hatten wir unsere Ausweise frisiert, um zum ersten Mal in eine Großstadtdisko zu kommen, den Namen habe ich verdrängt, aber es war das Hamburger Gegenstück zum Kudorf.

"So stelle ich mir Après-Ski vor", schreie ich.
Meine Begleiterin lächelt nachsichtig.

Dem Kollegen wird das alles zu viel. Er wendet sich kopfschüttelnd ab und dem Alkohol zu. Wir hingegen wackeln mit unseren Körpern im Takt der Musik.

Die Tanzkette löst sich abrupt auf, die Glut einer Kippe hat den Unterarm einer der Spasskanonen versengt. Die Vorstellung, die Zigarettenbesitzerin könnte es mit Absicht getan haben, reicht aus, um mich sofort in sie zu verlieben.

"Hey, wer gefällt dir", schreit meine Begleiterin, und kommentiert dann: "Zu jung, nee, wahnsinniger Blick, nein, die hat hennarote Haare."

Ja, ist mir auch aufgefallen, aber es ist Kastanie.
"Du musst sie überraschen", schreit meine Begleiterin.

Doch ein Typ mit deutlich dunklerem Bartschatten kommt mir zuvor. Und er beherrscht die Spielregeln.

"OK, ich such jemanden aus, der zu dir passt", schreit meine Begleitung. "Die da drüben, die ist frei und willig. Das sehe ich!"

Ja, das sehe ich auch. Außerdem ist doppelt so alt wie ich und sieht so aus, wie ich mir eine Kulturredakteurin vom Freitag vorstelle.

Das Alpha-Männchen und das Henna-Weibchen schreien sich mittlerweile regelmäßig ins Ohr. Sie lächelt, manchmal schließt sie die Augen, und wenn sie lacht, legt sie ihre Hand auf die Brust.

Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Am Ausgang lasse ich mir noch einen Stempel geben, damit die Kollegen am Band morgen denken, ich hätte ein Leben. Mit hochgeschlagenem Kragen höre ich zu, wie die Stille in meinen Ohren rauscht.

Meine Cousine hat mir versprochen, mich mit auf eine Ü-30-Party zu nehmen, wenn ich sie in ihrer süddeutschen Kleinstadt besuche. Ich bin vorbereitet.

10. Februar 2007
denkblase: Am Fließband

Es wird einsam am Fließband.
Die Reihen lichten sich.
Die ersten Roboter stehen am Band. Sie wissen nicht, was sie tun, und das merkt man ihren Zwergen auch an. Sie müssen stets beaufsichtigt werden.
Als Spezialist bin ich als einer der Letzten übrig. Und damit einer der Nächsten, der gehen wird. Traurig bin ich darüber nicht.
Die Kollegen von den frivolen Zwergen machen keine Witze mehr. Stattdessen modellieren sie unnatürlich große Geschlechtsmerkmale und freuen sich, wenn die Zwerge von der Endkontrolle unbemerkt ausgeliefert werden.
Der Chef sagt, wir müssen mehr Qualität produzieren, wie die Leute in den Gartenzwergmanufakturen.
Wie das mit weniger Kollegen am Band gehen soll, erklärt er uns nicht.
Dafür sagt er, dass er unser Denken ändern muss.
Dass er in unseren Köpfen etwas aufbrechen muss.
Aber ich möchte nicht, dass er in meinem Kopf etwas aufbricht.
(Wenn, dann mache ich das selber.)

2. Februar 2007
fremde Welt: ...

Er streicht ihr ganz sanft, ganz langsam, ganz hingebungsvoll über den Hinterkopf.
Wie manche Jungs ihre schmollende Freundin berühren.
Sie sieht ihn nicht an, ihr gletschereisbonbonblauer Blick ist in die Ferne gerichtet.
Wie der Blick von schmollenden Frauen, die sich ihrer Macht und ihrer Rolle sicher sind.
Sie zuckt nicht einmal mit den Ohren.
Es irritiert mich, wie dieser Typ seine Huskyhündin streichelt.

26. Januar 2007
denkblase: Die Stille nach dem Fliessband

Nein, nicht der Mond.

Workoholic werd ich nie, habe ich immer wieder und voller Überzeugung behauptet.
Doch nach den ersten Tagen am Fließband der Plastikzwergfabrik bin ich mir da nicht mehr so sicher.
Es ist keine Gartenzwergmanufaktur. Wir produzieren keine Gartenzwerge, die man sich zu Repräsentationszwecken ins Regal stellen könnte. Nein, es sind kleine billige Plastikzwerge für den täglichen Bedarf. Niemand braucht wirklich Plastikzwerge, schon gar nicht unsere, aber viele erfreuen sich kurz an ihrem Anblick. Ich verstehe nicht warum, aber es wird wohl so sein.
Die Rohzwerge beziehen wir vom Marktführer, aber das sollen unsere Kunden nicht merken. Meine Arbeit könnte auch ein Roboter erledigen, doch solche Maschinen wären Spezialanfertigungen, in der Herstellung sehr teuer, viel teurer, als ich es bin. Bei meiner Arbeit geht es darum, den billigen Industriezwergen den Anschein von Individualität zu geben. Dazu biege ich bei jedem Exemplar die Arme und Beine etwas anders zurecht, ziehe die Zipfelmütze lang oder die Ohren. Manchmal male ich einzelnen Zwergen sogar eine rote Nase oder Sommersprossen, doch das kostet Zeit. Dafür muss ich abends dann etwas länger bleiben, um mein Plansoll zu erfüllen.
Das Gerede der Vorarbeiter, dass es bald den Zwerg 2.0 geben könnte, mit beweglichen Gelenken, den sich die Kunden dann selbst zurechtbiegen können, und der unser aller Untergang wäre, nehme ich nicht ernst.
Die Arbeit ist stressig, die Vorarbeiter machen Druck, aber nach einiger Zeit am Band geht es mir gut. Ich fühle mich gebraucht, ich habe keine Zeit zum Grübeln. Immerhin habe ich eine solide handwerkliche Ausbildung, und jetzt kann ich meine Fähigkeiten beweisen.
Die Kollegen sind nett. Die vom Nachbarband (frivole Zwerge) mag ich am liebsten, denn ihre Witze sind böse. Ich kann sie verstehen.
Während ich dem letzten Zwerg des Tages mit besonderer Sorgfalt Sommersprossen auftupfe, zähle ich in Gedanken das Geld, das ich am Tage verdient habe. Dann gehe ich den dunklen Weg zur S-Bahn und lege der Akkordeonspielerin schüchtern eine Münze in den Koffer. Die Töne erinnern mich an etwas, doch an was genau, fällt mir nicht ein.
Ich fühle mich leer. Ich fühle mich gut.
Und das macht mir Angst.

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