17. Februar 2007
berlin: Die dunkle Seite der Diskokugel

Man sieht sie nicht, aber die Dunkle Materie ist es, die das Weltall zusammenhält.
"Na, was überlegst du?" schreit meine Begleiterin.
Als Antwort zucke ich die Schultern, schüttle den Kopf und hebe die Bierflasche.

Die Diskokugel schickt ihre Reflexe durch den Nebel aus Zigarettenrauch, Männerschweiß und Niveadeo. Die Veranstaltung ist einschlägig beleumundet. Die einzigen mit Stil sind die DJs und ihre Freundinnen, der Rest besteht aus purer Verzweiflung.
Deshalb sind wir hier.

"Ich habe mal eine Doku über Erdmännchen gesehen, die stampfen rhythmisch auf den Boden und locken damit über Kilometer willige Partner an", schreit meine Begleiterin.

Die junge Frau auf der Tanzfläche hat einen stolzen Blick, trägt einen silberweißen Kunstfaserpullunder und ein Rotweinglas - und steppt, dass der Boden bebt.

"Ganz schlimm sind diese Giraffentypen, die sich da hinter der Säule verstecken, aber einen langen Hals machen und mir auf die Titten stieren", schreit meine Begleiterin. Ich nicke abwesend und betrachte weiter die anwesenden Frauen.

Mir fällt ein, was ich im Internet über das Lek-Paradoxon gelesen habe.

Der Kollege, der uns begleitet, hat seit einer Stunde kein Wort mehr gesagt.

Das DJ-Gespann kommentiert das Geschehen zunächst noch mit ironischen Titeln, gibt aber dann dem Publikum, was es will.

Auf der Tanzfläche umarmen sich drei Typen, schwingen im Takt die Beine in die Luft und versuchen, andere einzugliedern. Ja, ich hab sowas auch mal gemacht. Mit Zigarettensteuermarkenpapier hatten wir unsere Ausweise frisiert, um zum ersten Mal in eine Großstadtdisko zu kommen, den Namen habe ich verdrängt, aber es war das Hamburger Gegenstück zum Kudorf.

"So stelle ich mir Après-Ski vor", schreie ich.
Meine Begleiterin lächelt nachsichtig.

Dem Kollegen wird das alles zu viel. Er wendet sich kopfschüttelnd ab und dem Alkohol zu. Wir hingegen wackeln mit unseren Körpern im Takt der Musik.

Die Tanzkette löst sich abrupt auf, die Glut einer Kippe hat den Unterarm einer der Spasskanonen versengt. Die Vorstellung, die Zigarettenbesitzerin könnte es mit Absicht getan haben, reicht aus, um mich sofort in sie zu verlieben.

"Hey, wer gefällt dir", schreit meine Begleiterin, und kommentiert dann: "Zu jung, nee, wahnsinniger Blick, nein, die hat hennarote Haare."

Ja, ist mir auch aufgefallen, aber es ist Kastanie.
"Du musst sie überraschen", schreit meine Begleiterin.

Doch ein Typ mit deutlich dunklerem Bartschatten kommt mir zuvor. Und er beherrscht die Spielregeln.

"OK, ich such jemanden aus, der zu dir passt", schreit meine Begleitung. "Die da drüben, die ist frei und willig. Das sehe ich!"

Ja, das sehe ich auch. Außerdem ist doppelt so alt wie ich und sieht so aus, wie ich mir eine Kulturredakteurin vom Freitag vorstelle.

Das Alpha-Männchen und das Henna-Weibchen schreien sich mittlerweile regelmäßig ins Ohr. Sie lächelt, manchmal schließt sie die Augen, und wenn sie lacht, legt sie ihre Hand auf die Brust.

Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Am Ausgang lasse ich mir noch einen Stempel geben, damit die Kollegen am Band morgen denken, ich hätte ein Leben. Mit hochgeschlagenem Kragen höre ich zu, wie die Stille in meinen Ohren rauscht.

Meine Cousine hat mir versprochen, mich mit auf eine Ü-30-Party zu nehmen, wenn ich sie in ihrer süddeutschen Kleinstadt besuche. Ich bin vorbereitet.

Aktuelle Beiträge

Vor dem Low Brain, 0.53...
"Schuldigung, habt ihr grad einen Typen rauskommen...
dialogannahme

dialogannahme
Luxus für die Ohren
Es ist Herbst 2009, es gibt immer noch Punkkonzerte...
dialogannahme
undergound
„We wanted to do Berlin underground, and it can't get...
dialogannahme

Suche

 

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Post

dialogannahme [bei] googlemail [punkt] com

anstalt
berlin
denkblase
fremde Welt
giesskannen
hoeren
lesen
ost-west-begegnung
take-home-message
woanders
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren