14. März 2007
denkblase: ...

Die Stadt ist klein, sie liegt an keinem ernstzunehmenden Fluß, sie hat viele Maschinenbaustudenten und deshalb Kneipen, die Hobbit oder Hotzenplotz heissen. Am Wochenende fällt die Landbevölkerung zum Shoppen ein, bauchfrei und mit verspiegelten Sonnenbrillen.
Die dort leben, sagen mir, es sei ein Dorf.
Immer wenn ich dort bin, fühle ich mich fast wie zu Hause.

Berlin ist anspruchslos. Berlin verlangt nicht viel von mir. Ich brauche nicht komplett zu sein, Berlin ist es ja auch nicht. Deshalb bin ich gerne hier. Meistens.

Und es gibt Samstage, an denen ich im Café sitze und lese. Eine zeitlang gelingt es mir, die anderen Gäste auszublenden. Doch dann schlägt jemand mit der flachen Hand auf den Tisch, dass der langstielige Löffel im Milchkaffeeglas klappert, und ruft: „Sex now!“

Sein weibliches Gegenüber sieht nach manifester Körperschemastörung aus, hat sich in eine trotzdem noch zu enge Karottenjeans und die Karottenjeans in die Stiefel gequetscht und sieht ihn gebannt an.

„Sex now! Irgendwann muss Schluss sein mit dieser feinziselierten Handlung, dann muss es auch mal zum Punkt...“ Und dann wird seine Stimme wieder leiser, dass sie fast im Grundrauschen untergeht. Alles klar, hier wird das Treatment der neuen Mitte-Soap besprochen, mindestens.

Seine Haare sind sorgfältig zerstrubbelt, er trägt Germanistenbrille und einen Parka mit umpuschelter Kapuze. Vor ihm auf dem Tisch liegt die aktuelle Vogue und darauf ein Päckchen Ernte 23.

In den Augenblicken überkommt mich die Sehnsucht nach der utopischen Kleinstadt. In der nicht zwei Drittel der Bewohner die Energie von umgerechnet drei Atomkraftwerken zur sorgfältigen Selbstinszenierung verschwenden, bis auch der letzte Rest uncooler, unkontrollierter Authentitizät Echtheit ausgemerzt ist. Und in der Ernte 23 nur unironisch geraucht wird.
claireg. - 17. Mär, 22:33

aber nur manchmal, nehme ich an.

dialogannahme - 19. Mär, 11:10

Sicher, nur manchmal.
Es gibt ja auf viel Grund für Dankbarkeit.
Z.B. darüber, in einer Stadt zu leben, in der ich mit dem Küchenradio ein Programm empfangen kann, das keine Beleidigung für jeden denkenden und fühlenden Menschen ist...
http://www.radioeins.de/_/beitrag_jsp/key=beitrag_170924.html
claireg. - 19. Mär, 16:11

Eben...und die besten Aussichten dafür hat man dann doch in Berlin.
Berlin birgt die Gefahr zu infantilisieren, aber es verwöhnt auch. (Ist das das Gleiche?)

Ich bin immer gerne in B., aber vielleicht müsste ich mich auch sehr gegen die o.g. Gefahr wappnen, würde ich dort immer leben. Das Leben in der Kleinstadt ist dem jedoch kaum vor zu ziehen.

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