26. Januar 2007
denkblase: Die Stille nach dem Fliessband

Nein, nicht der Mond.

Workoholic werd ich nie, habe ich immer wieder und voller Überzeugung behauptet.
Doch nach den ersten Tagen am Fließband der Plastikzwergfabrik bin ich mir da nicht mehr so sicher.
Es ist keine Gartenzwergmanufaktur. Wir produzieren keine Gartenzwerge, die man sich zu Repräsentationszwecken ins Regal stellen könnte. Nein, es sind kleine billige Plastikzwerge für den täglichen Bedarf. Niemand braucht wirklich Plastikzwerge, schon gar nicht unsere, aber viele erfreuen sich kurz an ihrem Anblick. Ich verstehe nicht warum, aber es wird wohl so sein.
Die Rohzwerge beziehen wir vom Marktführer, aber das sollen unsere Kunden nicht merken. Meine Arbeit könnte auch ein Roboter erledigen, doch solche Maschinen wären Spezialanfertigungen, in der Herstellung sehr teuer, viel teurer, als ich es bin. Bei meiner Arbeit geht es darum, den billigen Industriezwergen den Anschein von Individualität zu geben. Dazu biege ich bei jedem Exemplar die Arme und Beine etwas anders zurecht, ziehe die Zipfelmütze lang oder die Ohren. Manchmal male ich einzelnen Zwergen sogar eine rote Nase oder Sommersprossen, doch das kostet Zeit. Dafür muss ich abends dann etwas länger bleiben, um mein Plansoll zu erfüllen.
Das Gerede der Vorarbeiter, dass es bald den Zwerg 2.0 geben könnte, mit beweglichen Gelenken, den sich die Kunden dann selbst zurechtbiegen können, und der unser aller Untergang wäre, nehme ich nicht ernst.
Die Arbeit ist stressig, die Vorarbeiter machen Druck, aber nach einiger Zeit am Band geht es mir gut. Ich fühle mich gebraucht, ich habe keine Zeit zum Grübeln. Immerhin habe ich eine solide handwerkliche Ausbildung, und jetzt kann ich meine Fähigkeiten beweisen.
Die Kollegen sind nett. Die vom Nachbarband (frivole Zwerge) mag ich am liebsten, denn ihre Witze sind böse. Ich kann sie verstehen.
Während ich dem letzten Zwerg des Tages mit besonderer Sorgfalt Sommersprossen auftupfe, zähle ich in Gedanken das Geld, das ich am Tage verdient habe. Dann gehe ich den dunklen Weg zur S-Bahn und lege der Akkordeonspielerin schüchtern eine Münze in den Koffer. Die Töne erinnern mich an etwas, doch an was genau, fällt mir nicht ein.
Ich fühle mich leer. Ich fühle mich gut.
Und das macht mir Angst.

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