fremde Welt


30. Dezember 2006
fremde Welt: Angst vor Verstrunkung

Wir drängen uns in den Gang des überfüllten Eurocities, sehr geehrte Fahrgäste, der Zug verkehrt heute ohne Wagen 268. Klar, so direkt nach den Feiertagen, da kann man schon mal einen Waggon vergessen.
Du stehst dicht neben mir, notgedrungen, notgedrängt, mit deinem Fischgrätmantel und dem Karton unter dem Arm. Wir kommen unverfänglich ins Gespräch, ich kenne das Buch, das du liest. Dauernd will jemand zum Klo, vor dem wir stehen, lesen ist so zu mühsam, und so unterhalten wir uns. Du musst am Hauptbahnhof raus, eine Station vor mir. "Hey, verrat mir mal deine Adresse", sage ich, als du aussteigst, du schaust irritiert, "dann kann ich dir deinen Karton vorbeibringen." Der steht nämlich noch in der Mitte des Ganges. Du lachst, bedankst dich und schreibst mir tatsächlich noch deine Nummer auf die Hand, genau wie Marla.
So stelle ich mir das vor.
Aber während wir unser Gepäck und uns wie Tetrisklötze arrangieren, ja, genau, der Kinderwagen ist prima, um die Reihe zu beenden, stehst du plötzlich auf der anderen Seite und neben mir dieser junge Polizist, der abwechselnd Doom auf seinem Handy spielt und dann wieder in einer mysteriösen technischen Zeitschrift blättert, vielfarbige Kurven auf Hochglanzpapier und Abbildungen türkisfarbener Roboter, die Glasgefäße an ihren vielgelenkigen Armen tragen, vermutlich zur Niederschlagsbestimmung auf der Venus. Mit dem Klo im Waggon gegenüber scheint es Probleme zu geben. Die ersten vier Frauen, die das WC betreten, verlassen es gleich wieder rückwärts und mit erhobenen Händen, als hätte sie jemand mit einer Waffe bedroht. Erst die Fünfte hat offenbar ein richtig dringendes Bedürfnis. Sie bleibt für Stunden die Einzige, alle anderen schieben sich an mir vorbei auf das andere WC und drängen mich immer weiter in die Ecke, weg von dir. Und du? Schenkst mir nicht einen einzigen Blick. Ich kann den Titel deines Buches lesen. Mir fallen schlaue Bemerkungen ein, aber du übersiehst mich. Und tauschst stattdessen Blicke mit diesem Bullen in seiner blauen Colani-Uniform, der nicht mal in der Lage war, der alten Frau mit dem Schalenkoffer unaufgefordert zu helfen.
Schließlich Hauptbahnhof, du schiebst dich an mir vorbei, ohne mich anzusehen. Die Türen schließen selbsttätig, der Zug rollt an und an dir vorbei, ich sehe dich ein letztes Mal, und dann hebe ich meine Tasche von deinem Karton, der noch immer im Gang steht. Tja, Schlampe, wär besser für dich gewesen, du hättest mich beachtet.

29. Dezember 2006
fremde Welt: Schlüsselreize

„Hey komm, S.“, fällt sie mir entschlossen ins Wort und spricht mich auch noch mit Namen an, mitten im Gespräch, „das war doch der billigste Mädchentrick überhaupt, mit dem sie dich gekriegt hat. Genau wie diese Pullovernummer mit zu langen Ärmeln, in denen sie sich dann verkriechen, so kuck mal, wie klein und niedlich ich bin...“
„Moment, ich steh überhaupt nicht auf Mädchen...“, versuche ich mich zu wehren.
„... sondern auf Frauen, jaja, weiss ich doch, auf verrückte Frauen, aber auch wenn du denkst, du hast es durchschaut, funktioniert es trotzdem. Das ist genau wie bei mir und den Männern mit großen Autos.“

17. November 2006
fremde Welt: "Eh kein ' Sinn"

Frauengeschichten? frage ich ihn. Wir haben uns monatelang nicht gesehen.
Er knurrt, macht eine wegwerfende Geste und stößt dabei an den Ikea-Tisch. Die leeren Bierdosen wackeln und tickern aneinander, aber keine fällt um.
Neenee, Frauen interessieren mich nicht, sagt er.

Zwölf Stunden früher: Ich sitze an der Bar, weil ich das Elend nicht mit ansehen kann. Wie er mit verwaschener Artikulation und ungetrübtem Selbstbewußtsein die Caipirinha-trinkende Frauenrunde vollquatscht. Ich habe das Bier gleich und mit einem deutlichen Trinkgeld bezahlt. Sicherlich werden wir auf das Wohlwollen der Tresenfrau später noch angewiesen sein. Sie weiß mein Schweigen zu schätzen und stellt mir eine große Schale Knabberzeug hin. Ich schaue ihr bei der Arbeit zu. Routiniertes Hantieren mit Gläsern und Flaschen. Beruhigend wie die Metamorphosen in einer Lavalampe. Die Ruhe vor dem Sturm. Es kann nicht mehr lange dauern, bis mich mein Kumpel gewaltsam vom Barhocker holen, zu seinen neuen Bekannten zerren und mich „vorstellen“ wird. Widerstand wäre zwecklos und würde alles nur noch schlimmer machen.

Ich gebe mir keine Mühe, das Schicksal aufzuhalten. Schließlich ein würdeloser Abgang. Ich schleife meinen Kumpel untergehakt durch die Tür, er reisst sich noch einmal los und ruft „Aber wenn, dann du! Du oder keine!“ und stochert dabei mit seinem Zeigefinger in der Luft, dann kann ich ihn wieder greifen und wir stolpern auf die Straße.

Kein Interesse an Frauen? Gestern wirkte das noch anders, sage ich.
Echt? Warum, was war denn los?
Er weiß es noch genau. Vielleicht nicht in allen Einzelheiten, aber das Wesentliche.
Und warum kein Interesse? frage ich stattdessen.
Weil es eh kein' Sinn hat. Außerdem hab ich die Schnauze voll... Und selbst?

18. September 2006
fremde Welt: Asphalt

I love asphalt

Er lacht und sagt: „Ich habe darauf gewartet, dass du das sagen wirst.“
„Weiß ich doch, deshalb habe ich es ja gesagt“, antwortet sie und grinst.
Er betrachtet sie, ihre schwarzen Haare, die Germanistenbrille, den silbernen Ring an ihrer rechten Hand, mit der sie jetzt am Autoradio spielt.
„Kannst dich ja melden, wenn wieder so eine Lesung ist“, sagt sie und schaut zu ihm rüber.
„Klar“, antwortet er.
So hat es einfach keinen Sinn.
Kein Schicksal, nur Verzweiflung.
Er legt den Kopf an die kalte Seitenscheibe und schließt die Augen.

6. August 2006
fremde Welt: Wohnen und sich wohlfühlen

schoenerwohnen

"Die Enge war zwar erst ein Schock,
jedoch vom Klo im siebten Stock
da schweift der Blick in weite Fernen."

(Die B-Seite der 78er-Hitsingle "Goethe war gut")

4. August 2006
fremde Welt: Frau Kaufmanns Kommunikationsproblem

Die grüne Plastikgießkanne schlenkerte in Frau Kaufmanns rechter Hand. Ein paar Jahre waren nun schon seit dem Tod ihres Bruders Willy vergangen, und langsam konnte sie sich ohne Groll seinem Grab nähern. Fast ohne Groll. Am Eingang war sie am Büro des widerlichen Friedhofsverwalters vorbeigekommen, das glücklicherweise leer war. „Bin gleich zurück“, stand auf den gelben Post-it, der an der Glastür klebte. Sie schaute schnell zur Seite.

Mit Willy Zetteln fing das an, was mittlerweile zwei große rote Krankenakten in der Psychiatrie füllte. Ihr großer Bruder Willy kam ihr immer schon etwas komisch vor, aber plötzlich sprach er nicht mehr mit seiner Schwester und fing statt dessen an, mit ihr nur noch über gekrakelte Notizzettel zu kommunizieren. Er verstummte völlig. Sprach kein Wort mehr mit ihr. Ein paar Tage schaute sie sich das an. Dann holte sie den Dosenpieker aus der oberen Küchenschublade, um auszuprobieren, ob sich ihrem Bruder nicht doch noch etwas Akustisches entlocken ließe.

Der Kinderpsychiater suchte nach Erklärungen für ihr Verhalten und fand schließlich eine nicht allzu beunruhigende, und so geriet die Geschichte allmächlich in Vergessenheit. Ihr Bruder, dessen rechtes Auge immerhin eine Sehkraft von 20 Prozent wiedererlangte, sprach allerdings weiterhin nicht mit ihr. Er klebte ihr aber auch keine selbstgeschriebenen Botschaften mehr an die Zimmertür.

Als dann später diese gelben selbstklebenden Zettel auftauchten, und alle Welt sich nur noch über Post-its zu vertändigen schien, kam allmählich wieder Fahrt in die Sache. Frau Kaufmann versuchte, ihren Arbeitsplatz Post-it-frei zu halten, aber immer wieder kam es vor, dass ein Mitarbeiter aus einer anderen Abteilung ihr eine Akte schickte, auf die er einen knappen Klebezettelhinweis gepappt hatte.

Mit der Zeit nahmen ihre Anfälle an Heftigkeit zu, so dass Frau Kaufmann schließlich in den Archivkeller versetzt wurde. Der Bürobote bekam die Anweisung, jede Akte auf Post-its zu kontrollieren, bevor er sie Frau Kaufmann aushändigte. Aber nach dem Vorfall mit der Krankheitsvertretung, die nicht ausreichend angelernt wurde oder vielleicht auch nur etwas nachlässig war, wurde Frau Kaufmann in den Vorruhestand versetzt. Sie hatte den von der Zeitarbeitsfirma vermittelten Langzeitarbeitslosen über Nacht im Aktenkeller gefangen gehalten und versucht, ihm klar zu machen, dass Klebezettel keine angemessene Kommunikationsform zwischen vernünftigen erwachsenen Menschen ist - bis die Batterien ihres Elektroschockers leer waren.

Irgendwann gab es noch eine Auseinandersetzung mit dem Hauswart, Frau Kaufmann erinnerte sich noch allzu gut. Schließlich verbrachte sie eine Nacht auf der Polizeiwache. Der dämliche Hauswart hatte sie daran erinnert, dass sie mit ihrem Treppenhausputzdienst im Rückstand war. Mit einem gelben Post-it, für alle gut sichtbar an ihre Wohnungstür gepappt. Als sie ihn das nächste Mal durch ihren Türspion erblickte, er wohnte genau gegenüber, hatte sie ihn zur Rede gestellt. Dass sie die Geflügelschere nur zufällig in der Hand hielt, weil sie gerade kochen wollte, davon konnte sie schließlich diesen psychiatrischen Gutachter überzeugen, der „keine Anzeichen für Eigen- oder Fremdgefährdung“ auf dem Formular ankreuzte und die Polizei sie schließlich wieder gehen lassen musste.

Das war vor mehrern Jahren, und seitdem hatten ihre Klinikakten Staub angesetzt. Aber sie spürte, dass der Lack der dünn war und langsam alt und brüchig wurde. Und wie doch jedesmal noch ein leichter Groll in ihr aufstieg, wenn sie zum Friedhof ging, um Willys Grab zu pflegen. Willy, mit dessen Botschaften alles begann. Sie war ein paar Monate nicht am Grab gewesen, sicherlich würde sie die Rosenschere benötigen, die sie in ihrer Jackentasche trug.

Mit der linken Hand spielte sie mit dem Sicherheitsverschluss der Schere, dachte dabei kurz an den verabscheuungswürdigen Friedhofsverwalter, und bog schließlich auf den kleinen Weg ein, an dem Willys Grab lag...

post-it

19. Juli 2006
fremde Welt: Frau Kaufmann redet nicht mehr

Frau Kaufmann liegt im Bett, die Decke bis zum Kinn hochgezogen. Gleich würde ihre Tochter zu Besuch kommen, wie jeden Samstag Nachmittag.
Frau Kaufmann verläßt ihre Wohnung nicht. Nie. Ihr Blick fällt auf die Pflanze in der Zimmerecke. Schnell schaut sie wieder zur Seite, auf das Bücherregal mit den ledernen Rücken der „Reader‘s Digest“- Auswahlbücher.
Täglich kommt der Sozialdienst der Kirche zu ihr, und jeden Samstag ihre Tochter, um Lebensmittel zu bringen. Und ein bißchen zu reden. Doch Frau Kaufmann antwortet nicht. Nie. Einige Zeit dachten sie, Frau Kaufmann wäre etwas seltsam geworden, das Alter eben. Doch ihr Schweigen hielt an, und mittlerweile halten alle sie für verrückt.
Frau Kaufmann weiß das, und sie weiß, dass sie sich irren. Denn schließlich hat sie Gründe für ihr Schweigen.

Es war ein Sonntag im April, an dem ihre Tochter ihr diese Pflanze schenkte. Gegen die Einsamkeit, wie sie sagte. Eine große Pflanze in einem großen Topf, die aussah wie ein Quadratmeter Dschungel. Dunkelgrüne, fleischige Blätter, die an behaarten lianenartigen Ranken wuchsen und sich um einen dicken Stock wanden. Eine einzige Blüte saß in der Baumkrone dieses Miniatur-Dschungels. Das Innere der Blüte war groß wie ein Katzengesicht, umgeben von violetten Blütenblättern.
Gefällt sie dir, fragte ihre Tochter. Frau Kaufmann nickte. Die Pflanze war ihr auf den ersten Blick unheimlich.
Ich glaube, hier passt sie gut hin, sagte die Tochter. Schau mal, wie gut die Blätter zum Muster deiner Tapete passen. Sie stellte die Pflanze auf die roten Kacheln des schmiedeeisernen Blumenhockers, zwischen den kleinen Tisch mit dem Telefon und die Stehlampe. Es dämmerte bereits, und das trübe Licht, das unter den Trotteln des Lampenschirms hervor schien, spiegelte sich auf den dunkelgrünen Blättern der Pflanze.

Es klopft an der Tür, und dann dreht sich der Schlüssel im Schloß. Frau Kaufmanns Blick huscht zur Pflanze, die still in ihrem Topf sitzt und sich nicht rührt, und dann zur Tür. Ihre Tochter kommt herein, mit einer Papiertüte von Edeka im Arm. Hallo Mutti, sagt sie und kommt zu ihr ans Bett. Im Vorbeigehen streift sie ein Blatt der Pflanze, die feinen Härchen kratzen über ihre Windjacke. Frau Kaufmann zuckt zusammen. Das hatte die Pflanze noch nie getan.

Damals war Frau Kaufmann mitten in der Nacht aufgewacht. Es war stürmisch, und das Licht der Straßenlaterne fiel in ihr Fenster. Die Schatten der Zweige der Buche, die vor dem Haus stand, zuckten über ihre Tapete. Sie schaute in die Zimmerecke zu der Pflanze. Und erschrak. Die Pflanze bewegte sich. Entfaltete sich. Nahm plötzlich die ganze Ecke des Zimmers ein. Wand sich um die Stehlampe. Und kam näher. Der Weg zur Tür war bereits abgeschnitten. Frau Kaufmann zitterte. Langsam stand sie auf, ohne in ihre Pantoffeln zu schlüpfen. Sie ging vorsichtig zum Telefon und nahm den Hörer von der Gabel. Das ferne Tuten beruhigte sie etwas. Doch als sie die erste Ziffer der Telefonnummer ihrer Tochter wählte, und die Wählscheibe surrend zurückschnellte, hörte sie ein Rascheln. Zwei dicke Blätter patschten auf die Gabel, und als sich Frau Kaufmann umdrehte, blickte sie direkt in das Gesicht der Blume. Die violetten Blütenblätter waren drohend aufgestellt, das dunkle Innere der Blüte schimmerte harzig-feucht. Die Pflanze schüttelte leicht ihren Kopf. Ein scharfkantiges Blatt berührte seitlich den Hals von Frau Kaufmann und zuckte leicht im Takt der Halsschlagader. Frau Kaufmann begriff. Sie legte den Hörer vorsichtig wieder auf die Gabel. Das Blatt löste sich von ihrem Hals, und Schritt für Schritt ging sie rückwärts, bis sie an ihr Bett stieß. Erst, als sie wieder unter der Decke lag, wandte die Pflanze sich ab. Zwei Lianen näherten sich dem Kühlschrank und öffneten ihn. Eine Lache kaltes Licht ergoß sich auf den Linoleumboden der Küchenzeile. Die Pflanze bediente sich am Kochschinken und dem Räucherspeck. Dann zog sie sich zurück in ihren Topf, ohne die Kühlschranktür wieder zu schließen. Und blickte Frau Kaufmann an. Und Frau Kaufmann begriff wieder.

Mutti, ich versteh nicht, warum du so dürr bist, wo du doch immer diesen fetten Speck ißt, sagt ihre Tochter, während sie die Einkäufe in den Kühlschrank räumt. Und du vergisst immer wieder, den Kühlschrank ganz zuzumachen. Frau Kaufmann sieht ihre Tochter an und sagt nichts. Ihre Tochter nimmt die Gießkanne und wässert die Pflanze.
Tut mir leid, Mutti, ich hab es heute eilig, ich muss gleich weiter, aber nächste Woche hab ich mehr Zeit, wirklich. Sie steht schon wieder in der Tür, dreht sich aber noch einmal um: Wenn ich die Pflanze nicht jede Woche gießen würde, wäre sie schon längst eingegangen. Magst du meine Blume etwa doch nicht? Frau Kaufmann will etwas sagen, doch die Pflanze legt drohend ein Blatt vor ihr Blumengesicht. Und Frau Kaufmann bleibt stumm. Ihre Tochter zuckt mit den Schultern und zieht die Tür ins Schloss.

16. Mai 2006
fremde Welt: Muttertag

"Sag mal, hast du eigentlich mal wieder was von Mara oder Beate gehört?
Nein?
Was meinst du, welche Frage soll ich jetzt ruhig stellen?!
Nein, das wollte ich jetzt gar nicht fragen, aber wenn du das schon ansprichst, dann sag doch mal: Hast du wieder ein Mädchen kennengelernt? Hast du eine kleine Freundin*?
Was gibt es denn da jetzt zu lachen?! Das wär doch ganz natürlich!
Auf was achtest du denn bei Mädchen? Auf die Ausstrahlung? Auf Charme? Auf...
Holz vor der Hütte, was soll denn das jetzt!
Also, ich glaube ja, du achtest nicht so auf Äußerlichkeiten. Also, ich meine, Mara und Beate waren jetzt nicht direkt häßlich, aber eben auch nicht so...
Du sagst ja gar nichts mehr? Also, lass dir von deiner alten Mutter gesagt sein, Humor ist das Wichtigste beim Kennenlernen!"

Humor ist überhaupt das Wichtigste, denke ich.

* In dem Tonfall, der eigentlich für ihre Kommunikation mit kleinen Kindern, Haustieren, Senioren oder geistig Behinderten mental anders Begabten reserviert ist.

27. April 2006
fremde Welt: Die Liebe ihres Lebens

Frau Kaufmann schwimmt mit kräftigen Zügen auf die Boje zu. Die Sonne hat den Zenit überschritten und spiegelt sich in den Wellen. Sie blickt sich kurz um und sieht zu Klaus. Er steht am Strand, den Fotoapparat um den Hals, und winkt ihr langsam zu. Sie winkt zurück und schwimmt weiter. Sie nimmt sich vor, nicht eher zurückzublicken, bis sie die grünweiße Boje erreicht hätte.
Frau Kaufmann ist glücklich. Sie ist keine Schönheit, findet sie.
Doch sie war immer zuversichtlich. Eines Tages würde der Richtige schon kommen. Der Richtige, für die sie genau die Richtige war.
Sie zupft mit der rechten Hand die rote Badekappe zurecht, ein Geschenk von Klaus, und schwimmt weiter.
Ihre Geduld hatte sich endlich ausgezahlt. Die Jahre, die sie an ihrem Schreibtisch saß und die Lohnpfändungsakten der Bundesbahn-Gleisarbeiter bearbeitete. Es war an ihrem 20jährigen Dienstjubiläum, als sie Klaus kennenlernte. Sie hatte die Kolleginnen und Kollegen zu Umtrunk in ihr Büro gebeten. Es gab Kupferberg Gold, dazu Schokocrossies und Salzgebäck. Und da sah sie zum ersten Mal ihren neuen Kollegen. Als er ihr über sein Sektglas hinweg zulächelte, dachte sie zunächst, er müsse jemand anderen meinen. Doch rechts neben ihr stand nur die Birkenfeige, links der Aktenschrank, und hinter ihr war nur die Wand. Schließlich lächelte sie zurück und prostete ihm zu. Klaus hob sein Glas, lächelte wieder und kam auf sie zu.
Frau Kaufmann kümmerte sich nicht um das Getuschel ihrer Kolleginnen, und neun Wochen später saß sie mit Klaus im Flieger, zwei Wochen Spanien mit Halbpension, ihr erster Urlaub seit Jahren. Die Ferien mit Klaus war fantastisch. Die kleinen Unstimmigkeitenn fielen ihr erst im Nachhinein auf. Dass Klaus immer so schweigsam war. Und dass Klaus immer schnell verschwunden war, wenn es ums Bezahlen ging.
Die grünweiße Boje ist nicht mehr weit entfernt. Frau Kaufmann denkt, dass sie mit hundert Zügen die Boje erreichen könnte.
Klaus fotografiert viel, und Frau Kaufmann fühlt sich geschmeichelt, wenn er sie als Motiv wählt. Und so fand sie auch gar nicht seltsam, dass Klaus ihr den Vorschlag machte, sie im Meer zu fotografieren. Wie sie ihm von der grün-weißen Boje aus zuwinkt. "Aber die Boje ist doch so weit vom Ufer entfernt, da erkennst du mich ja gar nicht", wandte sie ein. "Ich erkenne dich ganz sicher, mein Schatz", sagte Klaus, "wenn du die rote Badekappe trägst, das wird ein wundervolles Foto, diese wundervollen Farben." Er lächelte und küsste sie. Und Frau Kaufmann war glücklich.
Jetzt erreicht sie die Boje, es waren doch mehr als 100 Schwimmzüge, sie hält sich an ihr fest, zupft noch einmal die rote Badekappe zurecht, setzt ihr Lächeln auf, obwohl die Entfernung zum Strand viel zu groß ist, als dass Klaus ihr Lächeln erkennen könnte, und dreht sich dann zum Ufer, um ihm zuzuwinken. Der Strand ist fast menschenleer, sie erkennt den Liegestuhlvermieter, den Eisverkäufer, das alte Ehepaar aus Zimmer 603 – doch Klaus sieht sie nirgends.
Ohne Auszuruhen schwimmt Frau Kaufmann zurück. Sie erreicht den Strand nach einer halben Stunde und ist ausser Atem, sie zittert. Am Strand ist Klaus nicht, sie läuft zum Hotel, in ihr Zimmer. Sein Gepäck ist nicht mehr dort, und auch ihr Bargeld fehlt und ihre Kreditkarte und die Halskette mit dem Rubinanhänger, ein Erbstück ihrer Großmutter.

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