4. August 2006
fremde Welt: Frau Kaufmanns Kommunikationsproblem

Die grüne Plastikgießkanne schlenkerte in Frau Kaufmanns rechter Hand. Ein paar Jahre waren nun schon seit dem Tod ihres Bruders Willy vergangen, und langsam konnte sie sich ohne Groll seinem Grab nähern. Fast ohne Groll. Am Eingang war sie am Büro des widerlichen Friedhofsverwalters vorbeigekommen, das glücklicherweise leer war. „Bin gleich zurück“, stand auf den gelben Post-it, der an der Glastür klebte. Sie schaute schnell zur Seite.

Mit Willy Zetteln fing das an, was mittlerweile zwei große rote Krankenakten in der Psychiatrie füllte. Ihr großer Bruder Willy kam ihr immer schon etwas komisch vor, aber plötzlich sprach er nicht mehr mit seiner Schwester und fing statt dessen an, mit ihr nur noch über gekrakelte Notizzettel zu kommunizieren. Er verstummte völlig. Sprach kein Wort mehr mit ihr. Ein paar Tage schaute sie sich das an. Dann holte sie den Dosenpieker aus der oberen Küchenschublade, um auszuprobieren, ob sich ihrem Bruder nicht doch noch etwas Akustisches entlocken ließe.

Der Kinderpsychiater suchte nach Erklärungen für ihr Verhalten und fand schließlich eine nicht allzu beunruhigende, und so geriet die Geschichte allmächlich in Vergessenheit. Ihr Bruder, dessen rechtes Auge immerhin eine Sehkraft von 20 Prozent wiedererlangte, sprach allerdings weiterhin nicht mit ihr. Er klebte ihr aber auch keine selbstgeschriebenen Botschaften mehr an die Zimmertür.

Als dann später diese gelben selbstklebenden Zettel auftauchten, und alle Welt sich nur noch über Post-its zu vertändigen schien, kam allmählich wieder Fahrt in die Sache. Frau Kaufmann versuchte, ihren Arbeitsplatz Post-it-frei zu halten, aber immer wieder kam es vor, dass ein Mitarbeiter aus einer anderen Abteilung ihr eine Akte schickte, auf die er einen knappen Klebezettelhinweis gepappt hatte.

Mit der Zeit nahmen ihre Anfälle an Heftigkeit zu, so dass Frau Kaufmann schließlich in den Archivkeller versetzt wurde. Der Bürobote bekam die Anweisung, jede Akte auf Post-its zu kontrollieren, bevor er sie Frau Kaufmann aushändigte. Aber nach dem Vorfall mit der Krankheitsvertretung, die nicht ausreichend angelernt wurde oder vielleicht auch nur etwas nachlässig war, wurde Frau Kaufmann in den Vorruhestand versetzt. Sie hatte den von der Zeitarbeitsfirma vermittelten Langzeitarbeitslosen über Nacht im Aktenkeller gefangen gehalten und versucht, ihm klar zu machen, dass Klebezettel keine angemessene Kommunikationsform zwischen vernünftigen erwachsenen Menschen ist - bis die Batterien ihres Elektroschockers leer waren.

Irgendwann gab es noch eine Auseinandersetzung mit dem Hauswart, Frau Kaufmann erinnerte sich noch allzu gut. Schließlich verbrachte sie eine Nacht auf der Polizeiwache. Der dämliche Hauswart hatte sie daran erinnert, dass sie mit ihrem Treppenhausputzdienst im Rückstand war. Mit einem gelben Post-it, für alle gut sichtbar an ihre Wohnungstür gepappt. Als sie ihn das nächste Mal durch ihren Türspion erblickte, er wohnte genau gegenüber, hatte sie ihn zur Rede gestellt. Dass sie die Geflügelschere nur zufällig in der Hand hielt, weil sie gerade kochen wollte, davon konnte sie schließlich diesen psychiatrischen Gutachter überzeugen, der „keine Anzeichen für Eigen- oder Fremdgefährdung“ auf dem Formular ankreuzte und die Polizei sie schließlich wieder gehen lassen musste.

Das war vor mehrern Jahren, und seitdem hatten ihre Klinikakten Staub angesetzt. Aber sie spürte, dass der Lack der dünn war und langsam alt und brüchig wurde. Und wie doch jedesmal noch ein leichter Groll in ihr aufstieg, wenn sie zum Friedhof ging, um Willys Grab zu pflegen. Willy, mit dessen Botschaften alles begann. Sie war ein paar Monate nicht am Grab gewesen, sicherlich würde sie die Rosenschere benötigen, die sie in ihrer Jackentasche trug.

Mit der linken Hand spielte sie mit dem Sicherheitsverschluss der Schere, dachte dabei kurz an den verabscheuungswürdigen Friedhofsverwalter, und bog schließlich auf den kleinen Weg ein, an dem Willys Grab lag...

post-it

4. August 2006
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