19. Juli 2006
fremde Welt: Frau Kaufmann redet nicht mehr
Frau Kaufmann liegt im Bett, die Decke bis zum Kinn hochgezogen. Gleich würde ihre Tochter zu Besuch kommen, wie jeden Samstag Nachmittag.
Frau Kaufmann verläßt ihre Wohnung nicht. Nie. Ihr Blick fällt auf die Pflanze in der Zimmerecke. Schnell schaut sie wieder zur Seite, auf das Bücherregal mit den ledernen Rücken der „Reader‘s Digest“- Auswahlbücher.
Täglich kommt der Sozialdienst der Kirche zu ihr, und jeden Samstag ihre Tochter, um Lebensmittel zu bringen. Und ein bißchen zu reden. Doch Frau Kaufmann antwortet nicht. Nie. Einige Zeit dachten sie, Frau Kaufmann wäre etwas seltsam geworden, das Alter eben. Doch ihr Schweigen hielt an, und mittlerweile halten alle sie für verrückt.
Frau Kaufmann weiß das, und sie weiß, dass sie sich irren. Denn schließlich hat sie Gründe für ihr Schweigen.
Es war ein Sonntag im April, an dem ihre Tochter ihr diese Pflanze schenkte. Gegen die Einsamkeit, wie sie sagte. Eine große Pflanze in einem großen Topf, die aussah wie ein Quadratmeter Dschungel. Dunkelgrüne, fleischige Blätter, die an behaarten lianenartigen Ranken wuchsen und sich um einen dicken Stock wanden. Eine einzige Blüte saß in der Baumkrone dieses Miniatur-Dschungels. Das Innere der Blüte war groß wie ein Katzengesicht, umgeben von violetten Blütenblättern.
Gefällt sie dir, fragte ihre Tochter. Frau Kaufmann nickte. Die Pflanze war ihr auf den ersten Blick unheimlich.
Ich glaube, hier passt sie gut hin, sagte die Tochter. Schau mal, wie gut die Blätter zum Muster deiner Tapete passen. Sie stellte die Pflanze auf die roten Kacheln des schmiedeeisernen Blumenhockers, zwischen den kleinen Tisch mit dem Telefon und die Stehlampe. Es dämmerte bereits, und das trübe Licht, das unter den Trotteln des Lampenschirms hervor schien, spiegelte sich auf den dunkelgrünen Blättern der Pflanze.
Es klopft an der Tür, und dann dreht sich der Schlüssel im Schloß. Frau Kaufmanns Blick huscht zur Pflanze, die still in ihrem Topf sitzt und sich nicht rührt, und dann zur Tür. Ihre Tochter kommt herein, mit einer Papiertüte von Edeka im Arm. Hallo Mutti, sagt sie und kommt zu ihr ans Bett. Im Vorbeigehen streift sie ein Blatt der Pflanze, die feinen Härchen kratzen über ihre Windjacke. Frau Kaufmann zuckt zusammen. Das hatte die Pflanze noch nie getan.
Damals war Frau Kaufmann mitten in der Nacht aufgewacht. Es war stürmisch, und das Licht der Straßenlaterne fiel in ihr Fenster. Die Schatten der Zweige der Buche, die vor dem Haus stand, zuckten über ihre Tapete. Sie schaute in die Zimmerecke zu der Pflanze. Und erschrak. Die Pflanze bewegte sich. Entfaltete sich. Nahm plötzlich die ganze Ecke des Zimmers ein. Wand sich um die Stehlampe. Und kam näher. Der Weg zur Tür war bereits abgeschnitten. Frau Kaufmann zitterte. Langsam stand sie auf, ohne in ihre Pantoffeln zu schlüpfen. Sie ging vorsichtig zum Telefon und nahm den Hörer von der Gabel. Das ferne Tuten beruhigte sie etwas. Doch als sie die erste Ziffer der Telefonnummer ihrer Tochter wählte, und die Wählscheibe surrend zurückschnellte, hörte sie ein Rascheln. Zwei dicke Blätter patschten auf die Gabel, und als sich Frau Kaufmann umdrehte, blickte sie direkt in das Gesicht der Blume. Die violetten Blütenblätter waren drohend aufgestellt, das dunkle Innere der Blüte schimmerte harzig-feucht. Die Pflanze schüttelte leicht ihren Kopf. Ein scharfkantiges Blatt berührte seitlich den Hals von Frau Kaufmann und zuckte leicht im Takt der Halsschlagader. Frau Kaufmann begriff. Sie legte den Hörer vorsichtig wieder auf die Gabel. Das Blatt löste sich von ihrem Hals, und Schritt für Schritt ging sie rückwärts, bis sie an ihr Bett stieß. Erst, als sie wieder unter der Decke lag, wandte die Pflanze sich ab. Zwei Lianen näherten sich dem Kühlschrank und öffneten ihn. Eine Lache kaltes Licht ergoß sich auf den Linoleumboden der Küchenzeile. Die Pflanze bediente sich am Kochschinken und dem Räucherspeck. Dann zog sie sich zurück in ihren Topf, ohne die Kühlschranktür wieder zu schließen. Und blickte Frau Kaufmann an. Und Frau Kaufmann begriff wieder.
Mutti, ich versteh nicht, warum du so dürr bist, wo du doch immer diesen fetten Speck ißt, sagt ihre Tochter, während sie die Einkäufe in den Kühlschrank räumt. Und du vergisst immer wieder, den Kühlschrank ganz zuzumachen. Frau Kaufmann sieht ihre Tochter an und sagt nichts. Ihre Tochter nimmt die Gießkanne und wässert die Pflanze.
Tut mir leid, Mutti, ich hab es heute eilig, ich muss gleich weiter, aber nächste Woche hab ich mehr Zeit, wirklich. Sie steht schon wieder in der Tür, dreht sich aber noch einmal um: Wenn ich die Pflanze nicht jede Woche gießen würde, wäre sie schon längst eingegangen. Magst du meine Blume etwa doch nicht? Frau Kaufmann will etwas sagen, doch die Pflanze legt drohend ein Blatt vor ihr Blumengesicht. Und Frau Kaufmann bleibt stumm. Ihre Tochter zuckt mit den Schultern und zieht die Tür ins Schloss.
Frau Kaufmann verläßt ihre Wohnung nicht. Nie. Ihr Blick fällt auf die Pflanze in der Zimmerecke. Schnell schaut sie wieder zur Seite, auf das Bücherregal mit den ledernen Rücken der „Reader‘s Digest“- Auswahlbücher.
Täglich kommt der Sozialdienst der Kirche zu ihr, und jeden Samstag ihre Tochter, um Lebensmittel zu bringen. Und ein bißchen zu reden. Doch Frau Kaufmann antwortet nicht. Nie. Einige Zeit dachten sie, Frau Kaufmann wäre etwas seltsam geworden, das Alter eben. Doch ihr Schweigen hielt an, und mittlerweile halten alle sie für verrückt.
Frau Kaufmann weiß das, und sie weiß, dass sie sich irren. Denn schließlich hat sie Gründe für ihr Schweigen.
Es war ein Sonntag im April, an dem ihre Tochter ihr diese Pflanze schenkte. Gegen die Einsamkeit, wie sie sagte. Eine große Pflanze in einem großen Topf, die aussah wie ein Quadratmeter Dschungel. Dunkelgrüne, fleischige Blätter, die an behaarten lianenartigen Ranken wuchsen und sich um einen dicken Stock wanden. Eine einzige Blüte saß in der Baumkrone dieses Miniatur-Dschungels. Das Innere der Blüte war groß wie ein Katzengesicht, umgeben von violetten Blütenblättern.
Gefällt sie dir, fragte ihre Tochter. Frau Kaufmann nickte. Die Pflanze war ihr auf den ersten Blick unheimlich.
Ich glaube, hier passt sie gut hin, sagte die Tochter. Schau mal, wie gut die Blätter zum Muster deiner Tapete passen. Sie stellte die Pflanze auf die roten Kacheln des schmiedeeisernen Blumenhockers, zwischen den kleinen Tisch mit dem Telefon und die Stehlampe. Es dämmerte bereits, und das trübe Licht, das unter den Trotteln des Lampenschirms hervor schien, spiegelte sich auf den dunkelgrünen Blättern der Pflanze.
Es klopft an der Tür, und dann dreht sich der Schlüssel im Schloß. Frau Kaufmanns Blick huscht zur Pflanze, die still in ihrem Topf sitzt und sich nicht rührt, und dann zur Tür. Ihre Tochter kommt herein, mit einer Papiertüte von Edeka im Arm. Hallo Mutti, sagt sie und kommt zu ihr ans Bett. Im Vorbeigehen streift sie ein Blatt der Pflanze, die feinen Härchen kratzen über ihre Windjacke. Frau Kaufmann zuckt zusammen. Das hatte die Pflanze noch nie getan.
Damals war Frau Kaufmann mitten in der Nacht aufgewacht. Es war stürmisch, und das Licht der Straßenlaterne fiel in ihr Fenster. Die Schatten der Zweige der Buche, die vor dem Haus stand, zuckten über ihre Tapete. Sie schaute in die Zimmerecke zu der Pflanze. Und erschrak. Die Pflanze bewegte sich. Entfaltete sich. Nahm plötzlich die ganze Ecke des Zimmers ein. Wand sich um die Stehlampe. Und kam näher. Der Weg zur Tür war bereits abgeschnitten. Frau Kaufmann zitterte. Langsam stand sie auf, ohne in ihre Pantoffeln zu schlüpfen. Sie ging vorsichtig zum Telefon und nahm den Hörer von der Gabel. Das ferne Tuten beruhigte sie etwas. Doch als sie die erste Ziffer der Telefonnummer ihrer Tochter wählte, und die Wählscheibe surrend zurückschnellte, hörte sie ein Rascheln. Zwei dicke Blätter patschten auf die Gabel, und als sich Frau Kaufmann umdrehte, blickte sie direkt in das Gesicht der Blume. Die violetten Blütenblätter waren drohend aufgestellt, das dunkle Innere der Blüte schimmerte harzig-feucht. Die Pflanze schüttelte leicht ihren Kopf. Ein scharfkantiges Blatt berührte seitlich den Hals von Frau Kaufmann und zuckte leicht im Takt der Halsschlagader. Frau Kaufmann begriff. Sie legte den Hörer vorsichtig wieder auf die Gabel. Das Blatt löste sich von ihrem Hals, und Schritt für Schritt ging sie rückwärts, bis sie an ihr Bett stieß. Erst, als sie wieder unter der Decke lag, wandte die Pflanze sich ab. Zwei Lianen näherten sich dem Kühlschrank und öffneten ihn. Eine Lache kaltes Licht ergoß sich auf den Linoleumboden der Küchenzeile. Die Pflanze bediente sich am Kochschinken und dem Räucherspeck. Dann zog sie sich zurück in ihren Topf, ohne die Kühlschranktür wieder zu schließen. Und blickte Frau Kaufmann an. Und Frau Kaufmann begriff wieder.
Mutti, ich versteh nicht, warum du so dürr bist, wo du doch immer diesen fetten Speck ißt, sagt ihre Tochter, während sie die Einkäufe in den Kühlschrank räumt. Und du vergisst immer wieder, den Kühlschrank ganz zuzumachen. Frau Kaufmann sieht ihre Tochter an und sagt nichts. Ihre Tochter nimmt die Gießkanne und wässert die Pflanze.
Tut mir leid, Mutti, ich hab es heute eilig, ich muss gleich weiter, aber nächste Woche hab ich mehr Zeit, wirklich. Sie steht schon wieder in der Tür, dreht sich aber noch einmal um: Wenn ich die Pflanze nicht jede Woche gießen würde, wäre sie schon längst eingegangen. Magst du meine Blume etwa doch nicht? Frau Kaufmann will etwas sagen, doch die Pflanze legt drohend ein Blatt vor ihr Blumengesicht. Und Frau Kaufmann bleibt stumm. Ihre Tochter zuckt mit den Schultern und zieht die Tür ins Schloss.