27. April 2006
fremde Welt: Die Liebe ihres Lebens

Frau Kaufmann schwimmt mit kräftigen Zügen auf die Boje zu. Die Sonne hat den Zenit überschritten und spiegelt sich in den Wellen. Sie blickt sich kurz um und sieht zu Klaus. Er steht am Strand, den Fotoapparat um den Hals, und winkt ihr langsam zu. Sie winkt zurück und schwimmt weiter. Sie nimmt sich vor, nicht eher zurückzublicken, bis sie die grünweiße Boje erreicht hätte.
Frau Kaufmann ist glücklich. Sie ist keine Schönheit, findet sie.
Doch sie war immer zuversichtlich. Eines Tages würde der Richtige schon kommen. Der Richtige, für die sie genau die Richtige war.
Sie zupft mit der rechten Hand die rote Badekappe zurecht, ein Geschenk von Klaus, und schwimmt weiter.
Ihre Geduld hatte sich endlich ausgezahlt. Die Jahre, die sie an ihrem Schreibtisch saß und die Lohnpfändungsakten der Bundesbahn-Gleisarbeiter bearbeitete. Es war an ihrem 20jährigen Dienstjubiläum, als sie Klaus kennenlernte. Sie hatte die Kolleginnen und Kollegen zu Umtrunk in ihr Büro gebeten. Es gab Kupferberg Gold, dazu Schokocrossies und Salzgebäck. Und da sah sie zum ersten Mal ihren neuen Kollegen. Als er ihr über sein Sektglas hinweg zulächelte, dachte sie zunächst, er müsse jemand anderen meinen. Doch rechts neben ihr stand nur die Birkenfeige, links der Aktenschrank, und hinter ihr war nur die Wand. Schließlich lächelte sie zurück und prostete ihm zu. Klaus hob sein Glas, lächelte wieder und kam auf sie zu.
Frau Kaufmann kümmerte sich nicht um das Getuschel ihrer Kolleginnen, und neun Wochen später saß sie mit Klaus im Flieger, zwei Wochen Spanien mit Halbpension, ihr erster Urlaub seit Jahren. Die Ferien mit Klaus war fantastisch. Die kleinen Unstimmigkeitenn fielen ihr erst im Nachhinein auf. Dass Klaus immer so schweigsam war. Und dass Klaus immer schnell verschwunden war, wenn es ums Bezahlen ging.
Die grünweiße Boje ist nicht mehr weit entfernt. Frau Kaufmann denkt, dass sie mit hundert Zügen die Boje erreichen könnte.
Klaus fotografiert viel, und Frau Kaufmann fühlt sich geschmeichelt, wenn er sie als Motiv wählt. Und so fand sie auch gar nicht seltsam, dass Klaus ihr den Vorschlag machte, sie im Meer zu fotografieren. Wie sie ihm von der grün-weißen Boje aus zuwinkt. "Aber die Boje ist doch so weit vom Ufer entfernt, da erkennst du mich ja gar nicht", wandte sie ein. "Ich erkenne dich ganz sicher, mein Schatz", sagte Klaus, "wenn du die rote Badekappe trägst, das wird ein wundervolles Foto, diese wundervollen Farben." Er lächelte und küsste sie. Und Frau Kaufmann war glücklich.
Jetzt erreicht sie die Boje, es waren doch mehr als 100 Schwimmzüge, sie hält sich an ihr fest, zupft noch einmal die rote Badekappe zurecht, setzt ihr Lächeln auf, obwohl die Entfernung zum Strand viel zu groß ist, als dass Klaus ihr Lächeln erkennen könnte, und dreht sich dann zum Ufer, um ihm zuzuwinken. Der Strand ist fast menschenleer, sie erkennt den Liegestuhlvermieter, den Eisverkäufer, das alte Ehepaar aus Zimmer 603 – doch Klaus sieht sie nirgends.
Ohne Auszuruhen schwimmt Frau Kaufmann zurück. Sie erreicht den Strand nach einer halben Stunde und ist ausser Atem, sie zittert. Am Strand ist Klaus nicht, sie läuft zum Hotel, in ihr Zimmer. Sein Gepäck ist nicht mehr dort, und auch ihr Bargeld fehlt und ihre Kreditkarte und die Halskette mit dem Rubinanhänger, ein Erbstück ihrer Großmutter.

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